Judith Malina: In unseren Gedanken sind wir fast nie allein

Essay von Jude Rawlins

This entry is part 24 of 35 in the series Direkte Aktion 219 – Sept/Okt 2013

Direkte Aktion 219 – Sept/Okt 2013

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Judith Malina: In unseren Gedanken sind wir fast nie allein

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New York: Arbeitskämpfe mit und nach Occupy Wall Street

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 Judith Malina auf der Bühne in Beirut (copyright Dirk Szuszies, Karin Kaper)

Sie tauchten im Nachkriegswirrwarr der New Yorker Straßen auf: Der Künstler Julian Beck und seine junge Frau, die Schauspielerin und Aktivistin Judith Malina.

1948 gründeten sie zusammen das Living Theatre, eine sich ständig weiter entwickelnde Truppe von radikalen kreativen DarstellerInnen, verbunden durch eine gemeinsame Philosophie der persönlichen Freiheit, der Revolution des Selbst; friedvolle AnarchistInnen, begeistert vom Gedanken der Liebe und Gleichheit für alle.

Judith Malina wurde als Tochter eines deutschen Rabbi geboren, ihre Familie emigrierte 1928 von Deutschland nach New York. Malinas Hingabe an ihre eigene Wahrheit und ihre zielsichere Fähigkeit, diese Hingabe durch die universelle Sprache des Theaters auszudrücken, hat zu einigen der bemerkenswertesten Aufführungen der Neuzeit geführt. Historisch gesehen hat sich das Living Theatre durch seine Interpretation der Werke von Bertolt Brecht, Jean Cocteau, Gertrude Stein und anderen einen radikalen Ruf erspielt. Einige Produktionen, wie die von Kenneth Browns The Brig, sind zur Legende geworden. Da es sich jedoch um das Theater dreht, um die einzelnen Aufführungen, um den Moment, ist es schwierig, das Werk ohne Anschauungsobjekt zu diskutieren. Über Theater zu sprechen, ist wie über Architektur zu tanzen.

Glücklicherweise wurden einige Momente eingefangen, und der wahrscheinlich beständigste davon ist Paradise Now. Größtenteils in Europa im Exil entstanden nach lächerlichen Anschuldigungen gegen Malina und Beck durch das amerikanische Finanzamt, die zu einem Gerichtsverfahren führten und mit einer Verurteilung wegen Missachtung des Gerichts endeten – eine Auszeichnung für alle AnarchistInnen – wurde Paradise Now vielleicht ihr stärkstes und zeitlosestes Stück. Sein künstlerischer Einfluss kann vielerorts beobachtet werden, insbesondere in den radikalen und furchtlosen Filmen von Ken Russell – es ist schwer zu glauben, dass sein Meisterwerk The Devils (Die Teufel von Loudun) nicht zu einem phänomenalen Grad von Paradise Now inspiriert sein soll. Die Ähnlichkeiten von Malina und Russell aufzuzeigen ist aufschlussreich. Russells Kreativität kannte keine Grenzen, in den 70ern war er kurzzeitig in Mode, seine Filme waren sowohl kontrovers als auch kommerziell erfolgreich. Aber er verlor niemals sein Ziel aus den Augen, er verkaufte sich nicht, er war weiterhin kontrovers und herausfordernd, auch als er unmodern wurde und als die britische Filmindustrie ihn mit offensichtlicher Verachtung strafte. Russell war, wie Malina, zu schillernd, zu einfallsreich und zu tiefgründig, um berechenbar zu sein. So strichen sie ihm die Fördermittel, und er machte unbeirrt weiter und wurde nur noch radikaler und kontroverser. Wie er ist auch Judith Malina der lebende Inbegriff dieser absoluten Verweigerung, sich den Launen der Mode zu beugen.

Die Genialität von Paradise Now liegt in seiner Einfachheit. Nur einige kleine, treffende Bemerkungen wie „Ich darf auf der Straße nicht nackt sein, ich darf nicht ohne Geld leben“ und ähnliche enthalten einen kraftvollen Protest gegen jedwede Unterdrückung. Sie zwingen uns, das Publikum, die offensichtliche Frage zu stellen: „Warum nicht?“. Und wir alle kennen die Antwort: „Weil es die Gesellschaft so will.“ Und wir alle wissen, das reicht nicht.

Paradise Now hat seinen Namen von Miltons Paradise Lost, und als solches kann das Living Theatre als Glied in der großen Kette der kreativen Tradition gesehen werden, die alle Stimmen der Wahrheit und Vernunft durch die Zeit vereint. Paradise Now ist kraftvoll, seines Namens würdig und es zeigt, dass seine SchöpferInnen Menschen voller Integrität und Wahrheit sind und – weit mehr – wie jedes große künstlerische Werk, hat Paradise Now viel zum Thema Freiheit zu sagen. Es ist grundsätzlich ein spirituelles Werk, und mit „Spiritualität“ meine ich das Gegenteil von Materialismus. Es hat nichts zu tun mit Übersinnlichem – Paradise Now, wie zuvor Paradise Lost, hat eine einzige Botschaft – im Wesentlichen, dass Regeln und Materialismus, Eigentum, Religion, Geld usw. alles Systeme sind, die uns aufgezwungen wurden wie Gefängnisstrafen, Dinge, um die wir niemals gebeten haben, aber die wir durch Gehirnwäsche für nötig erachten. Wie Blake sagte, muss mensch ein System erschaffen oder sich von dem System eines anderen versklaven lassen. Anarchie ist nicht Chaos, Anarchie dreht sich darum, uns selbst kennenzulernen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen und die Bedürfnisse anderer zu erkennen und zu verstehen. Anarchie verlangt von uns, dass wir Empathie entwickeln, Mitgefühl und Toleranz, und sie belohnt uns mit absoluter Freiheit. Anarchie ist eine bessere Art zu leben als die derzeitige Gesellschaftsform. Die Geschichte lehrt uns, dass wir Unterdrücker zerstören müssen, Judith Malina zeigt uns, wie wir das mit Liebe verwirklichen können.

Das Living Theatre ist nicht tot, trotz allem, was in der New York Times zu lesen war.

Direkte Aktion 219 – Sept/Okt 2013

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